Liveberger

Jetzt ist schon wieder was passiert — die Stahlberger bespielten ein Stadtteilfest auf dem Zürcher Röntgenplatz. Direkt nach der Festansprache des lokalen SP-Politikers liessen es die Ostschweizer tüchtig krachen und trugen gewohnt mannschaftsdienlich ihr mittlerweile reichhaltiges Repertoire vor. Dank dem urigen Idiom und anscheinend völlig freiwillig verharren die Stahlberger in einer jener bittersüssen dialektischen Nischen, deren poetischer Reichtum sich dem Lauschangriff erst nach ausgiebigen Studium von Wort und Schall eröffnet.

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Fallschirmspringer! Vögel!! Hornussen!!!

Die modulierte Moll-Lastigkeit scheint perfekt zum Phlegma der hiesigen Bergler und deren talwärts strebenden Nachkommen zu passen wie — ja wie, halt so, wie  der Tennisball zum Hornussen.

Live zücken die Stahlberger aber sowieso gerne die akustische Hellebarde und lassen dem sporadisch einsetzenden kakophonischen Chaos scheinbar freien Lauf, nur um es zielgerichtet gerade dann zu erlegen, „Wenn D Welt Undergoht“…

Leider aber gibt es auf öffentlichen Plätzen in der Schweiz noch kein Rauchverbot. Leider wird in In-Quartieren besonders ausgiebig geraucht. Leider wird auf Festivitäten generell viel zu viel geraucht. Leider ist der Hobbyschweizer Ex-Raucher.

Die Stahlberger-Musik jedoch ist einfach und schlicht: sackstark.

Electric Café

Die ambitionierte Konzertreihe «Les Digitales» stellt zeitgenössische Musik im elektro-experimentellen Kontext vor und findet während der Sommermonate in diversen Städten in der Schweiz umsonst & draussen statt. Lässig fläzt man sich in die bereitgestellten Liegestühle, lauscht den Darbietungen der Elektro-Akkustikern und geniesst die währschafte Volksküche zu zivilen Preisen. Bei der Zürcher Darbietung auf der Brache des ehemaligen Hardturmstadions hielt ich mein Gehör ganz nah an die Lautsprecher und war entzückt von den geschmeidigen Tonlagen, Toncollagen und Tonarten.

Zudem schien die Sonne prächtig.

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Besondere Erwähnung verdient das Zürcher Allstar-Trio Universalfilter, die dank fein verfremdeter Stimme, ordentlich verzerrter Stromgitarre und elektronisch modifizierter Steeldrum ein wundersames Klangspektrum entfalten, welches die Lauschenden sanft wie ein Schmetterling langsam aber sicher bestäubt. In eine ähnliche Kerbe hauen Sinner DC aus Genf, die es ebenfalls verstehen direkt aus der Steckdose kommend eine elektromagnetische Wohlfühloase zu generieren. Zwischendurch gibt es naturgemäss immer wieder mal ein tüchtiges Maschinengewitter, weil aber die einzelnen Auftritte kaum länger als eine halbe Stunde andauern, ziehen aber diese ganz rasch wieder vorüber. Der Schlussakkord in Zürich wurde schliesslich vom universellen Bit Tuner intoniert, der natürlich wieder einen äusserst adretten Pullover trug und die wenig verbliebenen Lichtquanten in der nun rasch einsetzenden Nacht gewohnt rhythmisch zur Os­zil­la­ti­on brachte.

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Allesamt interessant gelegen sind auch die ausgesuchten Örtlichkeiten der einzelnen Etappen — generell ist elektronische Mucke im Freien sehr sehr gut aufgehoben, hebt sich in der wildwüchsigen Natur quasi sowieso selbst auf und schwebt als schillernde Seifenblase ihrer finalen Detonation zu.

Wer will und kann sollte am kommenden Samstag unbedingt nach Neuchâtel pilgern, dann gibt es die Elektro-Lounge direkt am See mit Ausblick. Vielleicht hat sogar eine lokale Absinthé-Bar geöffnet; das feenreiche Val-de-Travers liegt ja just um die Ecke, gell Dirk.

Homerun

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Wenn ein BVG-Chauffeur an der Bushaltestelle Waldemarstrasse beim Einstieg keinen Cent für den Trip zum Ostbahnhof nimmt und lediglich lässig ein „ist schon ok“ fallen lässt, dann verspürt man als Hobby-Tourist mit Übergepäck schiere Hochachtung für die gepflegte Gastlichkeit im Herzen Kreuzbergs. In einer durch stete Frischblutzufuhr geradezu jungbrunnenhaft erscheinenden Metropole ist der banale Alltag niemals unproblematisch, nichts­des­to­trotz überrascht die stoische Abgeklärtheit der Alteingesessenen angesichts der zahllosen feierwütigen Touri-Horden.

Futschi rulez.

Tillen-Willi

Bewahrung und Erhalt von Traditionen ist eine ureigene helvetische Spezialität, welche heute in der marktkonformen Swissness gipfelt und dergestalt zum Geldwerten Vorteil gereicht. Besonders am Schweizer Nationalfeiertag, wenn auf der Rütliwiese oberhalb des Urner Sees der Bundesbrief verlesen wird und dabei der nebulöse Mythos von den drei Genossen aus Uri, Schwyz und Unterwalden, welche eben dort einen Eid geschworen haben sollen munter weiter tradiert wird, fällt auf, wie sehr die moderne Schweiz ihre dramaturgisch geschickt gepimpte Herkunft verklärt.

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In dem 1971 erschienenen Werk «Wilhelm Tell für die Schule» entlarvt Max Frisch den Gründungsmythos der Eidgenossenschaft gründlich mit einer kenntnisreichen Mischung aus Ironie, Humor und Phantasie. Frisch verzichtet auf jedwede Schönfärberei und ist mit seiner Version um einiges dichter an der historischen Wahrheit als das Helvetische Heldenepos. Er verschweigt nicht jene bis ins Detail auffällige Ähnlichkeit des kolportierte Apfelschusses mit gleich zwei Skandinavischen Vorbildern (Toko-Sage). Der Rütlischwur der drei lokalen Herren Stauffacher, Melchtal und Fürst ist bei Frisch eher ein Interessen-Bund von Grundeigentümern und keineswegs ein brüderlicher Freiheitsbund von einfachen Bauern und Hirten. Der «Trotz aus Unverständnis war mörderisch» bilanziert Frisch über die verstockten Bergler.

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(Foto: Sarah Groß, Fliegende Volksbühne Frankfurt)

Bis hinein ins 20. Jahrhundert galt noch der 7. November 1307 als Datum des vermeintlichen Rütlischwures, wobei solch gegenseitige Schutzabkommen zwischen verschiedenen Talschaften in jener Zeit sowieso oft und gerne geschworen wurden. Zur anstehenden Berner Kantons-Feier 1891 fand sich wie zufällig eine auf 1291 datierte Erklärung und mit dem Rütlirapport robbte der Nationalmythos dann allmählich weiter Richtung Monat August.

Urschweizer Verein Zürich, Urschweizer, 1. August 2014, Nationalfeier Schweiz, Bundesfeier Zürich

Im Zuge der epochalen Feiern von 1991, gefolgt vom ablehnenden Volksentscheid zur EU-Causa 1992 wurde der 1. August dann 1994 als arbeitsfreier Feiertag verfassungsmässig festgeschrieben. Die nationale Cervelat grilliert sich im Hochsommer jedenfalls viel angenehmer.