Summerboots over

Die Darbietung der pastellfarbenen Tanztruppe aus Barbarella-Zeiten dünkt selbst aus heutiger Sicht überraschend freizügig. Summer of Love, Flower Power und California Dreaming waren hoffnungsvolle Versprechen der popkulturellen Hegemonie des Westens, obschon die Sonne eben dort unterzugehen beliebt.

Nett aber, dass Herbst und Winter auf der Nordhalbkugel etwas kürzer sind als Rest…

Delikat Essen CXLIV

Beim letzten Zürcher Dönertestlauf konnte leider weder ein lokaler Tekbir noch Imren entdeckt werden; Yaprak beim Lochergut ganz ok, falls die Schlange nicht zu lang. Die Kalbsversion bei den Spaceboys passabel, das Interieur eher klinisch und steril, halt unterkühlter Züri-Style. Die obligatorischen Drehspiesse quasi unsichtbar, standen sie doch geruchsneutral ausserhalb des stark an ein Terminal erinnernden Warte- und Essbereichs.

Immerhin bis in die Stratosphäre hat der Zürcher Kebab es geschafft und die Jungs haben sogar Videomaterial hochgeladen. Axo, Preise aus Kreuzberger Perspektive ebenfalls astronomisch – 17 Stutz für ein gefülltes Taschenbrot. Im nächsten Leben werde ich Dönermann.

Reisegefährder

Ein erheblicher intoxinierter Fahrgast trug die Jeans beinahe in der Kniekehle. Mit sich führte er eine grosse Plastiktüte voller Bierdosen. Ringsum blieben die Sitze fast alle leer, während der laute und schwer verständliche Trinker permanent Selbstgespräche führte.

Völlig verständlich, dass der gute Mann sein überflüssiges Wasser sofort nach Ankunft in Zürich HB ganz ungeniert direkt auf dem Perron brünzelte. Reine Jahrhundertflut.

Interessant aber, wie vor dem inneren Auge mit zu Beginn noch etwas leichter Unschärfe allmählich das Bild von einem zünftigen Almabzug in schlichtem Schwarzweiss erschien.

Reines Welttheater

Das traditionsreiche Welttheater auf dem Klosterplatz in Einsiedeln feiert den 100sten, wobei – genötigt durch die Seuchenjahre – die Spiele um vier Jahre verzögert erst darum punktgenau im Jubiläumsjahr landen konnten. Ein Spielvolk von 500 Laien aus dem Ort agiert unter professioneller Anleitung den Sommer über vor der barocken und gewaltigen Kulisse der Klosterkirche der Benediktinerabtei. Angelehnt an das Werk von Pedro Calderón wird das einst streng christliche Lehrstück seit 1924 ungefähr alle zehn Jahre gegeben und dabei erst seit 2000 allmählich in etwas zeitgemässere Formen überführt, was nicht ganz ohne Reibungen geschieht, da das Kloster selbst ein gewichtiges Wort bei Planung und Durchführung mitzureden hat. Für die 2020 geplante Aufführung wurde Schriftsteller und Theatermacher Lukas Bärfuss engagiert, der quasi ausgehend von der Unmöglichkeit eines Welttheaters in heutiger Zeit trotz der Warteschleife eine eindrucksvolle Interpretation schuf.

Für die vorletzte Aufführung dieser Saison konnte noch geschwind ein Ticket ergattert werden und voller Vorfreude ging es in hoch in den Kanton Schwyz, zumal das spätsommerliche Wetter versprach ebenfalls mitzuspielen. Gleich beim Verlassen des Zubringerzuges wurde – hallo Kulturschock – die würzige Landluft mit diesem leichten, dem Städter fremden Odium von mindestens Tier bis frisch ausgebrachter Jauche vor der nahenden Regenzeit olfaktorisch deutlich.

Auf der Tribüne dann direkt neben meinem Platz eine Freiwillige von Arbeiter Samariter Bund Einsiedeln, die das Stück bereits achtmal unfallfrei sehen durfte und zur Dernière anderntags verdientermassen zur Belohnung einen Ehrenplatz in der Loge erhält. Wenn ich gross bin werde ich auch Samariter…

Ein König, ein Bauer, ein Reicher, ein Armer, die Schönheit und die Vernunft sind die ursprünglich vorgesehen Parameter des spätmittelalterlichen Stückes. Eben jene symbolhaft dargestellte Metaphern seien laut der Figur des Regisseurs – welcher in der heutigen Version quasi Gott ersetzt – nicht gewillt weiterhin mitzuspielen. Die Geschichte sei schlicht auserzählt und das Welttheater daher abgesagt heisst es lapidar. Ein Junge und ein Mädchen sind für die Rolle der ungeborenen Kinder eingeplant und daher über die kurzfristige Annullierung masslos enttäuscht. Das junge Mädchen möchte die Absage jedoch trotzig nicht akzeptieren, will unbedingt spielen und nur dank ihres unbändigen Willens sowie der gütigen Mithilfe einer harlekinesk die Welt verkörpernden Schauspielerin beginnt der Reigen dann doch noch. Die ehrwürdigen Protagonisten akzeptieren und nehmen ohne weiter mitzutun in ihrer den Kontrast zur Jetztzeit verstärkenden altertümlichen Kostümierung auf einer Seitenempore eine passive Zuschauerrolle ein, nur um im Verlauf des Abends eine(r) nach dem anderen abzutreten, um derart szenisch einen Punkt oder gar Rufzeichen zu setzen. Bemerkenswert: lediglich die Schönheit verweilt bis zuletzt im Stück und räumt ihren Platz nicht.

Das junge Mädchen wird im Verlauf des Stückes mehrmals durch jeweils ältere Versionen bis hin zur Greisin ersetzt und allen gemeinsam führt das Streben nach Glück, Macht, Reichtum und Schönheit durch Höhen und Tiefen bis zur finalen Erkenntnis der eigenen Endlichkeit. Der Kreis schliesst sich, als alle Versionen des Mädchens zusammen auftreten, die älteren Versionen vom Tod begleitet abtreten und nur das Mädchen unbedingt weiter «spielen» möchte und lautstark nach Spielkameradinnen ruft. Nach einer kurzen Pause bangen Wartens kommen schliesslich aus allen Ecken des riesigen Platzes Kinder angerannt und das Spiel beginnt so von neuem, endet aber an jenem Abend in einem grossen Finale aller Beteiligten.

Eine tolle und wichtige Rolle spielte bei der Aufführung Musik und Gesang, live von einer vorzüglichen Kapelle mit kompetenten Sängerinnen plus Chor vorgetragen. Licht und Sound weben ein dichtes Netz, Rauch- und Knalleffekte sowie aufsteigende weisse Tauben akzentuieren überraschend und geschickt die Handlung. Die Bildersprache rauschhaft: Aufmärsche mit roten Fahnen, Verslumung durch Verelendung, martialische Totalität durch Grössenwahn, Bilderstürmerei und Klosterraub, schockierende Kinderschändung und eigene Ignoranz – alles da und nichts bleibt unerwähnt. Welttheater halt und grandios nur Hilfsausdruck für das imposante Licht- und Schattenspiel vor und auf der klösterlichen Kulisse. Mehrfach sorgen auf einer Art Metaebene slapstickhaft auftretende Bühnenarbeiter im Lauf des Stückes für eine humorvolle Erdung.

Das Mysterienspiel in jener stark modernisierten Fassung war einfach phänomenal und die Spielfreude der Laien ansteckend. Wohltuend zudem, dass an einem eigentlich recht konservativen Ort eine progressive Weltsicht soviel Zuspruch finden kann; anscheinend gar kein Widerspruch in der Ruralität oder einer, welcher womöglich nur im bornierten Städter haust. Auch das anfänglich irritierende Odium war zum Ende hin gar nicht mehr spürbar, und so ging es doppelt immunisiert wieder runter ins Tal mitsamt den vielen glücklich verzauberten und dankbaren Festspielbesuchern in einer übervollen Südostbahn.