Vom Familienbiotyp der Zwergensiedlung ins babylonische Exil
Die Gentrifizierung schreitet auch in der Wohngenossenschaft munter voran und der Hobbyschweizer wurde downgeradet. Halbe Familie, halbes Umfeld. Immerhin einen Raucherbalkon kann er als aktiver Nichtraucher nach Gusto bespielen und die Aussicht auf das Bettenhaus vom Triemli-Spital ist grandios. Auch die Flugkünste der Rettungshelikopter könnte er bewundern, würde er mitts zur Nacht sich von seinem Diwan erheben, um die Flugkurven bis zur Landung zu studieren. Ja – Landeplatz fast vor Nase.
Leider steht ein fieser Nadelbaum direkt im Sichtfeld zum Refugium von Waliser Gastroschlawiner Guisep Fry aka Top of Zurich noch besser bekannt als Uetliberg und daher sind Beobachtungen alpiner Kletterkunst künftig leider erschwert. Aber Klettern momentan ohnehin nicht drin: nach dem Ortswechsel Körper deutlich spürbar, Seele flatternd und Geist (noch) am umherziehen. Next stop Dreieinigkeit.
Am Rand der kleinen grossen Stadt ist die Welt noch in Ordnung ländlicher als auch schon. Mit dem Fangglas musste schon mancher Monsternachtfalter aus der Mädchenabteilung unblutig entsorgt werden. Des weiteren wurde eine Blindschleiche aus dem Weg geräumt und friedfertige Kaulquappen aus Kinderhänden befreit. Zwei Katzen aus der Nachbarschaft erhielten die Rote Karte nebst vorläufiger Spielsperre. Ausser den Viechern kommt auch das meiste Wetter gerne überfallartig. Zuvor sah man aus der Beobachtungsstation was auf einen zukommt, jetzt pirschen sich die Wolken über den achthunderteinundsiebzig Meter hohen Hausberg flugs an die Siedlung heran.
Die Luft atmet sich angenehm würzig mit einer erdigen feucht-frischen Note — kein Vergleich zu der abgestandenen Feinstaubkonzentration in der Innenstadt. Weder im Wilden Süden noch in der grossen Mauerstadt hat der Hobbyschweizer je so sauerstoffhaltig gehaust. Mutmasslich aber handelt es sich hierbei um einen kleinen vorsätzlichen Selbstbetrug, weil die Sauerstoffaufnahmefähigkeit aufgrund fortgeschrittener Zellalterung qualitativ eher abgenommen haben muss. Dafür gibt es beim bergan strampeln mit dem Velo den Lungenfunktionstest gratis obendrein; wie beim Konditionstest sind die Ergebnisse leider doch ziemlich realistisch.
Im Vergleich mit der anonymen Wohnmaschine gestaltet sich in der Vorstadt die Öffentlichkeitsarbeit völlig anders. Quasi Grüezipflicht auf jedem Schritt. Die Randlage erlaubt jedoch auch randständiges Handeln: so kam ein jenischer Scherenschleifer vorbei, freundlich und entspannt, trotz meiner Absage. Ein leibhaftiger Scherenschleifer hat mich seit der frühen Kindheit nicht mehr kontaktiert! Ein wenig später läutete ein stummer Roma an der Haustüre, welcher sein schriftliches Bettelgesuch in einer Art laminierter Visitenkarte überreichte. Der dritte im munter selbstkonstruierten Bunde war ein schwer radebrechender Paketbote, welcher an der zugegeben komplizierten Zustellung scheiterte, das Paket kurzerhand wieder mit sich nahm und dafür mich sprachlos zurückliess.
Kommen morgen die Mormonen? Überzeugen bald die Zeugen oder rückt gleich die Heilsarmee an? Wann drücken die Drückerkolonnen die Klingel?
Where’s a policeman when you need one to blame the colour TV?
Kein Abschied ohne Schmerz, Schlüsselerlebnis Schlüsselübergabe.
Anstelle der Aussicht aus der 800-köpfigen Wohnmaschine über die kleine grosse Stadt mit dem himmelweiten Horizont geht nun der Blick auf die sozialdemokratischen Kleingartenparzellen in einer familienfreundlichen Rasenmähersiedlung inklusive des gar 900-köpfigen Monstrums namens Plenum, welches mit eidgenössisch disziplinierter Chropfleerete (Kropf leeren tut gut bei dicken Hals!) über die bauliche Zukunft einer alternden Genossenschaft mit Hilfe von gestellten Fresspäckli gegen den allmählich fallenden Blutzuckerspiegel am immer später werdenden Abend dennoch eine Beschlussfassung nahe handelsüblicher SED-Quoten erreicht.
Im Zweifel für den Zweifel und immer Volldampf voraus!
Heute — nach GAU und Super-GAU — ist die Riesenwohnmaschine ein schillerndes Soziotop. Schon Ex-Mieter Max Frisch wusste: Wohnen im Lochergut ist eben menschlich chic.
When I woke up the sun was shining in my eyes
My silver spurs were gone my head felt twice its size
She took my silver spurs a dollar and a dime
And left me cravin´ for more summer wine
Ohh-oh-oh summer wine
Mit Kater aber ohne Kohle in den Herbst — Sekundaräquinoktium pünktlich am 23. September um 05:09h MESZ.
Das Züri Fäscht rund um das Seebecken ist das grösste Schweizer Volksfest mit den üblichen Begleiterscheinungen, weshalb es der Stadt auch nur alle drei Jahre zugemutet wird. Schade eigentlich, weil die Feuerwerke pyrotechnische Extraklasse darstellen und diesmal eines nicht nur vom See aus, sondern teilweise in der Luft von Helikoptern abgefeuert wurde – Europarekord!
Eine ganz andere Flugshow bot die Patrouille Suisse mit wild aussehenden Attacken gegen die beige Wand der Wohnmaschine.
Den dazugehörigen Ton bitte mittels Abgasschwaden extrapolieren…
In unserer Wohnanlage gibt es 364 Wohnungen und in unserem Wohnturm alleine 83 Einheiten. Nach meinen bisherigen Erfahrungen hausen wir im Turm zu Babel – das Sprachgewirr ist vielfältig und ich bin schon wegen meines für hiesige Verhältnisse etwas vorlauten Mundwerkes aufgefallen. Der Schweizer liebt es zum Einen etwas zurückhaltender, zum Anderen verstehen meine vielen Mitmigranten sehr wenig Hochdeutsch und überhaupt ist beim Aufzugfahren eher gemeinsames Schweigen angesagt.
Bei schönem Wetter sieht man ein paar Alpen über dem See, doch ich sehe auch die arg beige Nordwand neben meiner Nase – leider ist unser Turm neben dem Nachbarturm etwas nach hinten gerutscht und nun hab ich die Fassade. Zum permanenten Feierabend scheint die Sonne dann hinten raus.
Abends ist es (noch) beeindruckend die Stadtlichter zu sehen, aber die Taktfrequenz des Zugverkehrs direkt vor dem Haus ist dann leider höher. Generell besteht hier eine eigenartige Geräuschkulisse – ruhig ist es quasi nie!
Einmal ist ein Raubvogel auf AugenFensterhöhe vorbeigekommen und hat mir kurz wohlwollend zugenickt. Wer weiss, vielleicht mach ich einmal den Flugschein. Die Spannung vor dem ersten Gewitter ist gross, weil der Himmel hier oben grösser und mächtiger erscheint als unten und die Horizontsicht viel weiter ist.
Im Keller des Turmes hat es eine Art Waschküche mit ungefähr 50 Maschinen. Die bedient man mit einer vorher extra aufgeladenen Chipkarte. Frech bucht der Apparat beim Start der Waschmaschine gleich drei Franken ab. Nach dem Waschen darf man eine Taste drücken und abhängig von der gewählten Waschtemperatur wird teilweise mehr als die Hälfte des Spieleinsatzes wieder auf die Karte zurückgebucht – eine etwas eigenartige Methode der Stadt als Waschcasinobetreiberin zu eventuellen Zusatzeinnahmen wegen Vergesslichkeit zu kommen.
In der Aula im Eingangsbereich treffen sich gerne die Alten (viele Wohnungen sind alters- und behindertengerecht gebaut — habe schon eine rüstige neunzigjährige Gehstuhlfahrerin kennengelernt!) um alles zu bereden, was so zu bereden ist. Vor den Briefkästen ist eine steinerne Bank um den von der Schaufensterkrankheit geschädigten Beinen etwas Ruhe zu gönnen. Eine ganz bestimmte Dame hab ich bereits im Verdacht mindestens den halben Tag dort unten in der Zugluft zu verbringen.
Mir gefällt der Eingangsraum wegen seiner halligen Akkustik – Stella freut sich sehr übers ECHOEchoecho.